ARTIKEL 20040228a    

28.02.2004

Nichtstrukturmäßige Aufklärungsgruppen

Die ersten Fallschirmspringer der Landstreitkräfte der NVA Von Oberstleutnant a. D. Gottfried Neis

Die Situation Ende 1958
Die Nationale Volksarmee der DDR ist gerade zweieinhalb Jahre alt, die Bundeswehr schon seit drei Jahren in die NATO integriert. Es wurde mit Besorgnis realisiert, dass in allen großen Armeen der NATO-Staaten eine verstärkte Ranger-Ausbildung vorangetrieben wird. Auf dem Territorium der BRD unterhielt die USA in Bad Tölz ca. 450 Mann der 10. Special Forces Group, spezielle Lehrgänge liefen in den V. Corps Escape and Evasion School in Wildflecken/Röhn, und auch in Berlin- Lichterfelde waren Ranger stationiert. An der Luftlandeschule in Altenstadt / Schongau fanden die ersten Einzelkämpferlehrgänge der Bundeswehr statt, und auch in anderen Bundeswehrstandorten wurde mit speziellem „Konditionstraining“ begonnen. Ausbilder waren genügend vorhanden, sollte (oder musste) doch jeder frischgebackene Leutnant einen Fallschirmsprunglehrgang oder (und) einen Einzelkämpferkurs absolvieren.
Soweit unser damaliger Erkenntnisstand.

In der NVA gab es solche Einheiten noch nicht, aber es sollte ein ähnliches Äquivalent geschaffen werden: Erfahrungen und Kenntnisse auf diesem Gebiet waren in der Truppe nicht vorhanden, und die sowjetischen Berater hielten sich mit Angaben über ihre Speznas - Einheiten aus Geheimhaltungsgründen sehr bedeckt. In der Truppe kannte auch keiner diesen Begriff, noch wussten sie, dass es solche Einheiten in der Sowjetarmee überhaupt gab. Dafür wusste sie besser über die Ranger- und Fernspähstrukturen der westlichen Armeen und ihre Ausbildung Bescheid, die dann auch folgerichtig als Bedrohung empfunden wurde.
In dieser Situation wurden die Angehörigen aller Aufklärungsbataillone (AB) darüber informiert, dass je AB zwei nichtstrukturmäßige Aufklärungsgruppen für den Einsatz im rückwärtigen Gebiet des Gegners auf freiwilliger Grundlage aufgestellt und ausgebildet werden sollten.

Hier hatte die Freiwilligkeit jedoch einen besonderen Aspekt. denn er setzte die Bereitschaft voraus, auch an einer Fallschirmsprungausbildung teilzunehmen, das heißt, die Ausbildung war für einen Einsatz in größerer Tiefe vorgesehen. Eine weitere Besonderheit bestand darin, dass anstelle von Unteroffizieren Offiziere als Gruppenführer - unabhängig von ihrem derzeitigen Dienstgrad oder ihrer Dienststellung - gesucht wurden. Hinzu kam, dass die Freiwilligkeit zu keinem Privileg, sondern zu noch mehr Belastung führte, denn die spezielle Ausbildung war im Wesentlichen zusätzlich zur obligatorischen Ausbildung, also außerhalb der normalen Dienstzeit bzw. mehrheitlich in konzentrierter Lehrgangsform vorgesehen, da die eigentliche Aufgabenerfüllung und Ausbildung in der strukturellen Funktion ebenfalls gewährleistet bleiben musste. Eine weitere Bedingung war die Gesundheitsstufe 1 und eine nochmalige ärztliche Untersuchung auf Sprungtauglichkeit. So war es nicht ganz einfach, die nötige Anzahl Freiwilliger zu finden, obwohl die Mehrbelastung durch zusätzliche Ausbildung nicht die primäre Rolle spielte. Die interessante Ausbildung, mehrheitlich außerhalb der Kaserne und da auch nicht immer ungedingt in die Enge oder Eintönigkeit eines Übungsplatzes gebunden, versprach da für manchen schon mehr Abwechslung, auch in Bezug auf eigene Kreativität, Findigkeit, Ausdauer und Mut. Vor allen Dingen lernte er da mehr als im üblichen Truppendienst, der ja bei den Aufklärern sowieso schon vielseitiger war als in manch anderen Waffengattungen.
Die eigentliche Hürde war die eigene Überwindung und der Mut zur Fallschirmausbildung und die Erlangung der Sprungtauglichkeit.
Eine nichtstrukturmäßige Aufklärungsgruppe bestand aus:
1 Offizier als Gruppenführer
2 Unteroffizieren (1 als Stellvertreter, 1 als Truppführer)
7 Aufklärern.

Der Sinn dieser Struktur bestand darin, dass der Gruppenführer mit einem Aufklärer als Melder bzw. Funker in der zu beziehenden Basis verblieb und zwei Aufklärungstrupps mit je einem Truppführer und drei Aufklärern zur Aufklärung von zwei kleineren Aufklärungsobjekten oder eines größeren Aufklärungsobjektes aussenden konnte. Dabei fungierte in jedem Trupp wiederum ein Aufklärer als Funker bzw. Melder.
Das Spezialausbildungsprogramm sah vor:
90 Std. Taktik
30 Std. Topographie
30 Std. Pionierausbildung
40 Std. Nachrichtenausbildung
40 Std. Militärische Körperertüchtigung/Sport
20 Std. Fallschirmbodenausbildung
30 Std. Reserve (Fahrschule)

Auf die einzelnen Themen der Ausbildungszweige soll hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden. Der Gruppenführer hatte viel freie Hand, die Ausbildung selbständig und ideenreich zu planen und durchzuführen. Das war es, was Spaß bereitete. Im Wesentlichen kam es darauf an, sich in die Lage eines Aufklärers hineinzuversetzen, der im Bestand einer kleinen Gruppe und auch oft auf sich allein gestellt, seinen Auftrag zu erfüllen hatte, und das unter den unterschiedlichsten Gelände- und meteorologischen Bedingungen, zu jeder Jahres- und Tageszeit. Dazu musste man neben weiteren Kenntnissen und Fertigkeiten nicht nur Struktur, Bewaffnung und Taktik eines möglichen Gegners kennen. sondern auch selber körperlich fit sein, einen guten Orientierungssinn beweisen sowie ein Meister in der Tarnung sein.
Jedoch das große unbekannte Abenteuer sollte die Fallschirmsprungausbildung werden, der alle mit mehr oder weniger Aufregung entgegenfieberten.
Obwohl die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) bereits 1952 gegründet wurde, gab es in diesen Aufklärungsgruppen entgegen anders lautenden Behauptungen wie zum Beispiel im Buch „Vom Himmel auf die Erde ins Gefecht...“, Seite 15, letzter Abschnitt. keine bereits ausgebildeten Fallschirmspringer, denn zu diesem Zeitpunkt war die GST noch nicht als Wehrsport-. sondern als technische Sportorganisation konzipiert. War doch ein einzelner Fallschirmspringer darunter, so war das reiner Zufall.

Endlich war es soweit.
Für April 1959 war die erste Fallschirmsprungausbildung vorgesehen. Als Sprungkombination wurde eine graue Arbeitskombination angepasst. Da man in Stiefeln nicht springen konnte, wurden Schnürschuhe aus alten KVP-Beständen (Kasernierte Volkspolizei) organisiert, die Absätze entfernt, Porokreppsohlen untergeleimt und zusätzlich ein Riemen über den Spann gearbeitet. Anfang April 1959 verlegten alle sechs nichtstrukturmäßigen Aufklärungsgruppen des Militärbezirkes V (Neubrandenburg) in den Wald am Rande des Luftzielschießplatzes Bronkow. Dort wurde als erstes die Sicherung organisiert, Zelte aufgebaut. die Feldküche entfaltet und aus Baumstämmen Sprungpodeste und Pendelgerüste für die bodenpraktische Ausbildung errichtet. Als Lagerleiter war Hauptmann Gerhard Zander von der Abteilung Aufklärung des Militärbezirkes eingesetzt. Ausbildungschef war der Leiter des Fallschirm- und Rettungsdienstes des Kommandos der Luftstreitkräfte / Luftverteidigung Hauptmann Horst Schöll (ehemaliger Fallschirmjäger des 1. Fallschirmjäger - Regiments der Wehrmacht) mit einigen seiner Fallschirmwarte als Ausbilder.
Dann wurde Theorie gepaukt und an den selbsterrichteten Trainingsgeräten und am Flugzeug AN-2 geübt, das Fallschirmpacken des Sprungfallschirmes PD-47 und des Rettungsfallschirmes PS41a bis zur vollkommenen Beherrschung erlernt.
Dann war es so weit. Am 9. April 1959 sprangen die ersten Soldaten der Landstreitkräfte der NVA aus einer AN-2 mit einer Absetzgeschwindigkeit von 150 km/h aus 500 m Höhe und landeten mit ihrem quadratischen Fallschirm sowjetischer Bauart sicher auf dem vorgesehenen Landeplatz. Es war ein herrliches und stolzes Gefühl, was einen richtigen Fallschirmspringer wohl zeitlebens begleitet. Bis zum 15. April wurden noch je zwei Sprünge aus 400 m und aus 300 m Höhe, davon je einer mit Waffe, absolviert.
Die Fallschirme reagieren sehr träge und sind daher nur bedingt steuerbar und somit für Ziellandungen nicht geeignet.
Der Sprunglehrgang verlief ohne Verletzungen, obwohl eine Gruppe bei ihrem zweiten Sprung am 11.4. aus 400 m Höhe in eine Sturmböe geriet und keiner auf dem Landeplatz landete. Der Leichteste musste immer zuletzt das Flugzeug verlassen und fand sich nach ca. zwei Kilometern Luftreise auf einer Kiefer wieder. Der Schwerste landete auf einem frisch gepflügten Acker und zog eine zweite Frühjahrsfurche, ehe er den Fallschirm in den Griff bekam.
Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Sprunglehrgang kehrten die Gruppen in ihre Standorte zurück.
Schon im September 1959 wurden diese Gruppen aus allen Aufklärungseinheiten der DDR auf einem sowjetischen Flugplatz in Tutow zusammengezogen, um bei einer Truppenübung eine Luftlandeeinheit zu spielen. Eigentlich war ein solcher Einsatz für Aufklärer eine Zweckentfremdung. In der Zeit vom 3.9. - 11.9. wurden nochmals sieben Sprünge aus Höhen zwischen 600 m und 250 m absolviert, darunter die ersten zwei Sprünge mit drei Sekunden im freien Fall. Das war natürlich eine neue Dimension, die sich für die Springer auftat. Am 21.9. und am 24.9. fand dann die „Luftlandung“ aus zwölf AN-2 aus 300 m Höhe statt; mal im Interesse der einen und danach der anderen übenden Seite. Für die Leitung der Übung war wichtig, dass man erstmalig zeigen konnte, dass die Landstreitkräfte über eigene Fallschirmspringer verfügten, wenn auch noch nicht über strukturmäßige.

Noch im November besuchte eine Reihe von Angehörigen der nichtstrukturmäßigen Aufklärungsgruppen des MBV einen extra organisierten Judolehrgang in Altwarp unter der Leitung des wohl ersten "Meister des Sports" in der Armeesportvereinigung. Oberstleutnant Alfons Neumann. Träger des II. Dan. Dieser wurde mit der Prüfung zum 5. Kyu (gelber Gürtel) und als Übungsleiter für Judo abgeschlossen.
Damit war eine weitere Etappe zur Gewährleistung einer qualifizierten Ausbildung abgeschlossen. Der Aufbau einer strukturmäßigen Spezialaufklärungseinheit je Militärbezirk war im Gespräch und viele hofften darauf, übernommen zu werden, einige auch nur aus dem Grund, um aus dem etwas trostlosen Standort in der nordostwärtigsten Ecke der Republik, wo zum Beispiel das AB-9 lag, wegzukommen. Die personellen Grundlagen für eine schnelle Aufstellung waren gegeben.


Gottfried Neis, gottfried@fallschirmjaeger-nva.de schliessen >>>