Nichtstrukturmäßige Aufklärungsgruppen
Die ersten Fallschirmspringer der Landstreitkräfte der
NVA Von Oberstleutnant a. D. Gottfried Neis
Die Situation Ende 1958
Die Nationale Volksarmee der DDR ist gerade zweieinhalb Jahre
alt, die Bundeswehr schon seit drei Jahren in die NATO integriert.
Es wurde mit Besorgnis realisiert, dass in allen großen Armeen
der NATO-Staaten eine verstärkte Ranger-Ausbildung vorangetrieben
wird. Auf dem Territorium der BRD unterhielt die USA in Bad
Tölz ca. 450 Mann der 10. Special Forces Group, spezielle
Lehrgänge liefen in den V. Corps Escape and Evasion School
in Wildflecken/Röhn, und auch in Berlin- Lichterfelde waren
Ranger stationiert. An der Luftlandeschule in Altenstadt /
Schongau fanden die ersten Einzelkämpferlehrgänge der Bundeswehr
statt, und auch in anderen Bundeswehrstandorten wurde mit
speziellem „Konditionstraining“ begonnen. Ausbilder waren
genügend vorhanden, sollte (oder musste) doch jeder frischgebackene
Leutnant einen Fallschirmsprunglehrgang oder (und) einen Einzelkämpferkurs
absolvieren.
Soweit unser damaliger Erkenntnisstand.
In der NVA gab es solche Einheiten noch nicht, aber es sollte
ein ähnliches Äquivalent geschaffen werden: Erfahrungen und
Kenntnisse auf diesem Gebiet waren in der Truppe nicht vorhanden,
und die sowjetischen Berater hielten sich mit Angaben über
ihre Speznas - Einheiten aus Geheimhaltungsgründen sehr bedeckt.
In der Truppe kannte auch keiner diesen Begriff, noch wussten
sie, dass es solche Einheiten in der Sowjetarmee überhaupt
gab. Dafür wusste sie besser über die Ranger- und Fernspähstrukturen
der westlichen Armeen und ihre Ausbildung Bescheid, die dann
auch folgerichtig als Bedrohung empfunden wurde.
In dieser Situation wurden die Angehörigen aller Aufklärungsbataillone
(AB) darüber informiert, dass je AB zwei nichtstrukturmäßige
Aufklärungsgruppen für den Einsatz im rückwärtigen Gebiet
des Gegners auf freiwilliger Grundlage aufgestellt und ausgebildet
werden sollten.
Hier hatte die Freiwilligkeit jedoch einen besonderen Aspekt.
denn er setzte die Bereitschaft voraus, auch an einer Fallschirmsprungausbildung
teilzunehmen, das heißt, die Ausbildung war für einen Einsatz
in größerer Tiefe vorgesehen. Eine weitere Besonderheit bestand
darin, dass anstelle von Unteroffizieren Offiziere als Gruppenführer
- unabhängig von ihrem derzeitigen Dienstgrad oder ihrer Dienststellung
- gesucht wurden. Hinzu kam, dass die Freiwilligkeit zu keinem
Privileg, sondern zu noch mehr Belastung führte, denn die
spezielle Ausbildung war im Wesentlichen zusätzlich zur obligatorischen
Ausbildung, also außerhalb der normalen Dienstzeit bzw. mehrheitlich
in konzentrierter Lehrgangsform vorgesehen, da die eigentliche
Aufgabenerfüllung und Ausbildung in der strukturellen Funktion
ebenfalls gewährleistet bleiben musste. Eine weitere Bedingung
war die Gesundheitsstufe 1 und eine nochmalige ärztliche Untersuchung
auf Sprungtauglichkeit. So war es nicht ganz einfach, die
nötige Anzahl Freiwilliger zu finden, obwohl die Mehrbelastung
durch zusätzliche Ausbildung nicht die primäre Rolle spielte.
Die interessante Ausbildung, mehrheitlich außerhalb der Kaserne
und da auch nicht immer ungedingt in die Enge oder Eintönigkeit
eines Übungsplatzes gebunden, versprach da für manchen schon
mehr Abwechslung, auch in Bezug auf eigene Kreativität, Findigkeit,
Ausdauer und Mut. Vor allen Dingen lernte er da mehr als im
üblichen Truppendienst, der ja bei den Aufklärern sowieso
schon vielseitiger war als in manch anderen Waffengattungen.
Die eigentliche Hürde war die eigene Überwindung und der Mut
zur Fallschirmausbildung und die Erlangung der Sprungtauglichkeit.
Eine nichtstrukturmäßige Aufklärungsgruppe bestand aus:
1 Offizier als Gruppenführer
2 Unteroffizieren (1 als Stellvertreter, 1 als Truppführer)
7 Aufklärern.
Der Sinn dieser Struktur bestand darin, dass der Gruppenführer
mit einem Aufklärer als Melder bzw. Funker in der zu beziehenden
Basis verblieb und zwei Aufklärungstrupps mit je einem Truppführer
und drei Aufklärern zur Aufklärung von zwei kleineren Aufklärungsobjekten
oder eines größeren Aufklärungsobjektes aussenden konnte.
Dabei fungierte in jedem Trupp wiederum ein Aufklärer als
Funker bzw. Melder.
Das Spezialausbildungsprogramm sah vor:
90 Std. Taktik
30 Std. Topographie
30 Std. Pionierausbildung
40 Std. Nachrichtenausbildung
40 Std. Militärische Körperertüchtigung/Sport
20 Std. Fallschirmbodenausbildung
30 Std. Reserve (Fahrschule)
Auf die einzelnen Themen der Ausbildungszweige soll hier
aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden. Der Gruppenführer
hatte viel freie Hand, die Ausbildung selbständig und ideenreich
zu planen und durchzuführen. Das war es, was Spaß bereitete.
Im Wesentlichen kam es darauf an, sich in die Lage eines Aufklärers
hineinzuversetzen, der im Bestand einer kleinen Gruppe und
auch oft auf sich allein gestellt, seinen Auftrag zu erfüllen
hatte, und das unter den unterschiedlichsten Gelände- und
meteorologischen Bedingungen, zu jeder Jahres- und Tageszeit.
Dazu musste man neben weiteren Kenntnissen und Fertigkeiten
nicht nur Struktur, Bewaffnung und Taktik eines möglichen
Gegners kennen. sondern auch selber körperlich fit sein, einen
guten Orientierungssinn beweisen sowie ein Meister in der
Tarnung sein.
Jedoch das große unbekannte Abenteuer sollte die Fallschirmsprungausbildung
werden, der alle mit mehr oder weniger Aufregung entgegenfieberten.
Obwohl die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) bereits
1952 gegründet wurde, gab es in diesen Aufklärungsgruppen
entgegen anders lautenden Behauptungen wie zum Beispiel im
Buch „Vom Himmel auf die Erde ins Gefecht...“, Seite 15, letzter
Abschnitt. keine bereits ausgebildeten Fallschirmspringer,
denn zu diesem Zeitpunkt war die GST noch nicht als Wehrsport-.
sondern als technische Sportorganisation konzipiert. War doch
ein einzelner Fallschirmspringer darunter, so war das reiner
Zufall.
Endlich war es soweit.
Für April 1959 war die erste Fallschirmsprungausbildung vorgesehen.
Als Sprungkombination wurde eine graue Arbeitskombination
angepasst. Da man in Stiefeln nicht springen konnte, wurden
Schnürschuhe aus alten KVP-Beständen (Kasernierte Volkspolizei)
organisiert, die Absätze entfernt, Porokreppsohlen untergeleimt
und zusätzlich ein Riemen über den Spann gearbeitet. Anfang
April 1959 verlegten alle sechs nichtstrukturmäßigen Aufklärungsgruppen
des Militärbezirkes V (Neubrandenburg) in den Wald am Rande
des Luftzielschießplatzes Bronkow. Dort wurde als erstes die
Sicherung organisiert, Zelte aufgebaut. die Feldküche entfaltet
und aus Baumstämmen Sprungpodeste und Pendelgerüste für die
bodenpraktische Ausbildung errichtet. Als Lagerleiter war
Hauptmann Gerhard Zander von der Abteilung Aufklärung des
Militärbezirkes eingesetzt. Ausbildungschef war der Leiter
des Fallschirm- und Rettungsdienstes des Kommandos der Luftstreitkräfte
/ Luftverteidigung Hauptmann Horst Schöll (ehemaliger Fallschirmjäger
des 1. Fallschirmjäger - Regiments der Wehrmacht) mit einigen
seiner Fallschirmwarte als Ausbilder.
Dann wurde Theorie gepaukt und an den selbsterrichteten Trainingsgeräten
und am Flugzeug AN-2 geübt, das Fallschirmpacken des Sprungfallschirmes
PD-47 und des Rettungsfallschirmes PS41a bis zur vollkommenen
Beherrschung erlernt.
Dann war es so weit. Am 9. April 1959 sprangen die ersten
Soldaten der Landstreitkräfte der NVA aus einer AN-2 mit einer
Absetzgeschwindigkeit von 150 km/h aus 500 m Höhe und landeten
mit ihrem quadratischen Fallschirm sowjetischer Bauart sicher
auf dem vorgesehenen Landeplatz. Es war ein herrliches und
stolzes Gefühl, was einen richtigen Fallschirmspringer wohl
zeitlebens begleitet. Bis zum 15. April wurden noch je zwei
Sprünge aus 400 m und aus 300 m Höhe, davon je einer mit Waffe,
absolviert.
Die Fallschirme reagieren sehr träge und sind daher nur bedingt
steuerbar und somit für Ziellandungen nicht geeignet.
Der Sprunglehrgang verlief ohne Verletzungen, obwohl eine
Gruppe bei ihrem zweiten Sprung am 11.4. aus 400 m Höhe in
eine Sturmböe geriet und keiner auf dem Landeplatz landete.
Der Leichteste musste immer zuletzt das Flugzeug verlassen
und fand sich nach ca. zwei Kilometern Luftreise auf einer
Kiefer wieder. Der Schwerste landete auf einem frisch gepflügten
Acker und zog eine zweite Frühjahrsfurche, ehe er den Fallschirm
in den Griff bekam.
Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Sprunglehrgang kehrten
die Gruppen in ihre Standorte zurück.
Schon im September 1959 wurden diese Gruppen aus allen Aufklärungseinheiten
der DDR auf einem sowjetischen Flugplatz in Tutow zusammengezogen,
um bei einer Truppenübung eine Luftlandeeinheit zu spielen.
Eigentlich war ein solcher Einsatz für Aufklärer eine Zweckentfremdung.
In der Zeit vom 3.9. - 11.9. wurden nochmals sieben Sprünge
aus Höhen zwischen 600 m und 250 m absolviert, darunter die
ersten zwei Sprünge mit drei Sekunden im freien Fall. Das
war natürlich eine neue Dimension, die sich für die Springer
auftat. Am 21.9. und am 24.9. fand dann die „Luftlandung“
aus zwölf AN-2 aus 300 m Höhe statt; mal im Interesse der
einen und danach der anderen übenden Seite. Für die Leitung
der Übung war wichtig, dass man erstmalig zeigen konnte, dass
die Landstreitkräfte über eigene Fallschirmspringer verfügten,
wenn auch noch nicht über strukturmäßige.
Noch im November besuchte eine Reihe von Angehörigen der
nichtstrukturmäßigen Aufklärungsgruppen des MBV einen extra
organisierten Judolehrgang in Altwarp unter der Leitung des
wohl ersten "Meister des Sports" in der Armeesportvereinigung.
Oberstleutnant Alfons Neumann. Träger des II. Dan. Dieser
wurde mit der Prüfung zum 5. Kyu (gelber Gürtel) und als Übungsleiter
für Judo abgeschlossen.
Damit war eine weitere Etappe zur Gewährleistung einer qualifizierten
Ausbildung abgeschlossen. Der Aufbau einer strukturmäßigen
Spezialaufklärungseinheit je Militärbezirk war im Gespräch
und viele hofften darauf, übernommen zu werden, einige auch
nur aus dem Grund, um aus dem etwas trostlosen Standort in
der nordostwärtigsten Ecke der Republik, wo zum Beispiel das
AB-9 lag, wegzukommen. Die personellen Grundlagen für eine
schnelle Aufstellung waren gegeben.

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